Die Toten

Die Toten von Dana Berg


Und wenn jemand stirbt, sagen wir sogleich:
sanft und friedlich ist er verschieden,
der Tod ist ein Schlaf, ein stiller Schlaf –
sagen es nicht dem Gestorbenen zuliebe,
denn unser Reden kann ihm nicht helfen,
sondern uns zuliebe,
um nichts vom Lebenshunger zu verlieren.

Sören Kierkegaard


Sie sind Sache des Rechenschiebers, sie sind zu einer Vergleichsmasse geworden oder waren es immer. Wir rechnen die Toten dafür und dagegen, wir rechnen sie auf, wir rechnen mit ihnen ab. Wer sich auf eine tote Summe beruft, bekommt schnell eine Gegensumme präsentiert. Der Tod wird zum Leistungsprinzip, eine Sache trauriger Rekorde, die die Toten mit Toten überbieten.


Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, wir messen auch den Tod daran, ob er mit unseren Anforderungen Schritt halten kann, denn wir sind nicht leicht zu beeindrucken.


Die Toten, so und so viele Tote … , wir benötigen Summen, um das Ausmaß von Katastrophen einzuschätzen. Das ist eine Katastrophe.


Der Tod ist ein kalkulierbarer Kollateralschaden. Kriege werden ein- oder zumindest infrage gestellt, sobald die Verluste zu hoch sind. Ab wann ist eigentlich zu hoch, frage ich mich, seit der Golfkrieg über mein Gesicht flimmerte, mein erster, mir bewusster Fernseh-Krieg. Wir sind es gewohnt, unglaubliche Todessummen hinzunehmen, zu akzeptieren oder als notwendiges Übel zu betrachten. Ich erinnere mich an den Schock, als ich zum ersten Mal Reportagen über die Hungersnot in Äthiopien sah, die Millionen Menschen das Leben kostete (eine irritierende Wendung, das Leben kostete), ich bin zusammengebrochen, samt meiner kindlich, unschuldigen Welt. Ich weinte völlig enthemmt, wie vielleicht nur Kinder weinen und erinnere mich auch, wie verstörend es für meine Mutter war, die nichts weniger, als die üblichen Nachrichten darin erkennen konnte und mich bat, umzuschalten und mich zusammenzureißen. So ist das eben. Menschen sterben. Jeden Tag und auf der ganzen Welt. So ist das eben.


Wir reißen uns zusammen. Wir bewahren Haltung, wir stutzen die Emotionen auf das sozial-verträgliche Maß. Wir können uns sogar das Weinen abgewöhnen und den Schmerz sedieren.


Was der Tod war, war mir früh bewusst, er war mir nicht fremd, aber zumindest eine Einzelerscheinung, er kam selten, blieb nicht lange und nahm immer nur einen auf den Friedhof mit. Was ich als Kind nicht verstand, war sein Auftreten in Legionen. Durch meine Fernseh-Initiation lernte auch ich, mich daran zu gewöhnen – wie denn auch nicht – das Grauen, dass sich hinter den nüchtern-sachlichen Nachrichten verbirgt, ist nicht auszuhalten, erst recht nicht als Dauerzustand. Wir kämen aus dem Trauern nie heraus und in das Leben nie herein. Ich reiße mich zusammen.


So ist das eben.


Es sind doch nur ein paar Tote, höre ich zu Beginn der Pandemie, es sind nur Alte, höre ich, die wären sowieso bald hin, höre ich und denke, ich verhör mich doch.


Wer so spricht, darf sich glücklich schätzen, denn er hat offensichtlich keinen Tod zu beklagen und urteilt, ob bewusst oder nicht, über wertes und unwertes Leben, wer so spricht, urteilt über Zahlen und nicht über Menschen.


Wer so spricht, hat sich gerne versprochen und führt die Kinder in der dritten Welt an und befeuert eine bigotte Debatte. Corona ist ein Kontrastmittel, schreibt Carolin Emcke, es zeichnet eine systemische Krise von unvorstellbarem Ausmaß scharf, der sich in Wirklichkeit niemand stellen möchte, kaum jemand stellen kann, denn sie ist global, unübersichtlich und die Bedingung unseres, meines Wohlstands.


Eigentlich schert es uns herzlich wenig, dass so viele Menschen unwürdig leben, gar sterben, damit wir unseren Wohlstand aufrechterhalten können. So ist das eben. Mit jeder vermeintlich harmlosen Kaufentscheidung, selbst der Unterlassung einer solchen, habe ich inzwischen Anteil an Unglück, Leid, gar Tod und bekräftige das wirtschaftliche Urteil, über wertes und unwertes Leben. Verantwortung ist inzwischen restlos privatisiert und somit Sache des Vergnügens. Das ist wahrlich zum Irrewerden, also tue ich, tuen wir, was wir am besten können. Wir schalten um.


Das Unglück der anderen schert uns unversehens, da wir Einschränkungen einer Freiheit hinnehmen müssen, die wir, obwohl sie vielmehr eine geschichtliche Ausnahme ist, längst für selbstverständlich erachten und obendrein mit unseren Ansprüchen verwechseln. Wir nehmen die Schwächsten (erneut) in Geiselhaft, als Garant für unsere Freiheit, die wir, sobald wir alle Vorzüge eines westlichen Lebens wiedererlangen, schnell wieder vergessen werden (müssen, damit wir nicht Irre werden). Denn wir bedauern schließlich nicht die kaum messbare Sterblichkeit, die eine Folge unseres Wohlstands ist, als solche, wir argumentieren, dass es mehr sein werden, solange wir Verzicht üben müssen. Die Toten treten gegen die Toten an. Es ist ein bizarrer, absurder Stellungskrieg, der vergessen macht, dass alle gestorben, alle zu betrauern sind. Wir vergessen und verdrängen, sonst kämen wir aus dem Trauern nie mehr heraus.


Am 29. August, waren es bereits 9449 Todesfälle, den vielen, die zu dieser Zeit in Berlin demonstrierten, waren es scheinbar zu wenige. Auch sie messen und rechnen, wenn auch schlampig, sie halten Verkehrstote und Herz-Kreislauf-Störungen entgegen. Die Toten werden gegen die Lebenden, die Schutzbedürftigen in Stellung gebracht. Sie sagen, es sei nur ein kleiner Prozentsatz, der scheint also lässlich. Manche sagen, Corona sei reine Erfindung. Ab wann ist ein Mensch lässlich? Ab wann ist der Tod real?


Der Tod ist ein Irrtum, schrieb Heiner Müller.


Wie viel Tote braucht es, um die Lebenden zu beeindrucken. Gestern, am 03. Dezember, waren es 17884 reale Tote, heute sind es bereits 18317 die an einer Erfindung starben. Menschen, die eine hohe Dunkelziffer an Trauernden hinterlassen. Doch ist die Trauer eben ein intimes Ritual und der Tod ein anonymes Geschäft. Schwer zu vermitteln und noch schwerer zu inszenieren. Wer weg ist, ist weg. Wir halten keine Totenwache, wir leben nicht in Bernarda Albas Haus, wir ertragen es nicht, ereifern uns, wenn Gregor Schneider den Tod sichtbar machen will. Es gibt kaum etwas, dass wir gründlicher aus unserem Alltag vertrieben haben als den Tod. Er ist uns inzwischen fremdgeworden und nur noch ein Optimierungsfehler, eine menschliche Schwäche, die es zu überwinden gilt.


Ein Bestatter erzählt mir, dass zwar in seinem Einzugskreis deutlich mehr gestorben werde als im Vorjahr, der Umsatz aber sinke. Er verzeichne bis zu 30% Verlust. Den eigentlichen Umsatz erwirtschafte er mit teuren hochwertigen Särgen und aufwendigen Zeremonien, aber wenn nur wenige bei einer Bestattung anwesend sein können, kaufen die Menschen die billigsten Särge.


Wenn niemand hinsieht, verstecken wir unsere Toten in billigen Särgen. So ist das also. Wir verstecken sie in Zahlenkolonnen, damit der einzelne nicht mehr sichtbar ist. So werden auch wir verschwinden, eine stille Zahl, ohne Geschichte, ohne Gesicht, eine Zahl, mit der die Nachgeborenen auf dem Rechenschieber der Verluste spielen lernen.


(nh)